Heinz Ohff zum Werk von Dieter Kraemer

Wenn man allgemein schon so großen Wert auf Prioritäten legt, so muss auch dies einmal gesagt werden: Dieter Kraemer war einer der Mitbegründer dessen, was heute als Neuer oder Kritischer Realismus speziell Berliner Provenienz bekannt (und bei Gegnern solcher Malerei berüchtigt) sein dürfte. Tatsächlich war er damals, Anfang der sechziger Jahre, wohl sogar der erste, zumindest unter den Jüngeren, der wieder figürliche Tafelbilder zu malen begann, der sich nach Beckmann hin orientierte und nicht nach Pollock.

 

Er kam aus Hamburg, seiner Geburtsstadt, wo er bei Trökes studiert hatte; der Wechsel, 1958, schien inkonsequent, denn Hamburg galt damals - mit Trökes und Wunderlich - als Nachhut-Bollwerk zumindest annähernd realistischer Malerei, während Berlin, nicht zuletzt durch seinen neuen Lehrer, Hann Trier, das Gegenteil schien, eine Hochburg des Vollabstrakten. Das hat sich später grundlegend gewandelt, eine Wandlung, an der, wie gesagt, Kraemer seinen Anteil hat. Zunächst begann er, typisch norddeutsch, in Form einer Ein-Mann-Opposition. Er wurde Meisterschüler eines Tachisten, stellte in einer tachistischen Galerie (Schüler) zuerst aus. Fast alle seine Mitschüler malten fern von jeglicher Gegenständlichkeit.

 

Kraemer hat, ebenfalls noch typisch norddeutsch, sehr von seinem Lehrer und vom Abstrakten rundherum profitiert und gelernt. Seine Farbskala veränderte sich, wurde sensibler, abgestufter, auch raffinierter. Unvergesslich seine ,,Motorradbräute“ dieser Anfangszeit, plumpe, schwere, auf kuriose Weise flinke Gestalten, an denen hauptsächlich die überdimensional und betont sorgfältig ausgeführten Schuhe auffielen: das Detail spielt bei Kraemer seither eine große Rolle.

 

Er wurde bald zum Schilderer des Kleinen-Leute-Alltags in Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs. Die Familiengruppen auf dem Sonntags-Balkon, die Picknick-Szenen neben dem VW (der seither als Symbol klein-bürgerlichen Wohlstands immer wieder in seinen Bildern aufgetaucht ist), die wohlgenährten, pardon, Weiber und die hilflose Langeweile, denen die Menschen ausgesetzt sind, die mit ihrem relativen Wohlergehen wenig anzufangen wissen, wurden sein zentrales Thema und sind es, etwas modifiziert, geblieben.
Kraemer war und ist der Wirtschaftswunderchronist aus der Perspektive von unten. George Grosz wollte in den verwirrten Zeiten zwischen den Kriegen ein Buch veröffentlichen, das den Titel "Von der Hässlichkeit der Deutschen" tragen sollte.
Kraemer hat es, in gewisser Weise, gemalt, und da er kein aggressiver Künstler ist, wurde so etwas wie eine rührende Hässlichkeit in stabilen Zeiten 'daraus. Wer jemals sich mit dem Menschenbild der deutschen sechziger und siebziger Jahre befasst, wird auf ihn zurückgreifen müssen.

 

Als Berlin - Diehl, Sorge, Petrick, Baehr, Vogelsang, Albert - immer mehr zu einer Stadt des Realismus wurde, hatte sich Kraemer schon nach Köln zurückgezogen, wiederum in eine leise Opposition, denn Köln gilt bis heute als Gegenpol Berlins, als Stadt der Zero-Leute und der Konzeptionisten mit Joseph Beuys als ungekröntem König oder sogar Kaiser. Kraemer schwimmt anscheinend lieber gegen als mit dem Strom. Er findet das vielleicht notwendig für seine Art der malerischen Konsequenz.

In Köln hat sich sein Stil gewandelt, aber nicht geändert. Eine Weile schien es, als würde er sich auf Manet besinnen, aber dann rückten bestimmte Details wieder in den Vordergrund: zerknüllte Zigarettenschachteln zum Beispiel, verwitterte Häuserfronten, verrostete Straßenschilder oder altertümliche Ladenauslagen. Die Vorstadt, in der er lange Jahre gewohnt hat, lag ihm mit ihrem Nicht-Fleisch-Nicht-Fisch-Charakter nahe. Er bevorzugte eine neue Perspektive, in der ein Straßenpflaster (möglichst mit geparktem VW) oder ein Stück Bürgersteig wie ein Tablett erschien mit achtlos weggeworfenen Gegenständen, die er dann auch gern einzeln im Aquarell festhielt und festhält. Seine Dingnähe reichte plötzlich bis hin zur täuschend ähnlichen trompe-l'oeuil-Malerei, ohne dass sie in pingeligem Naturalismus erstarrt wäre.

 

Da er gern in Zyklen malt, kann es gut sein, dass sich in seiner Malerei immer wieder neue Motive an die Stelle der alten setzen werden. Eines aber wird Kraemer wohl immer bleiben, einer der exaktesten Schilderer dessen, was an menschlicher Substanz vorhanden ist und vorhanden bleibt, wenn man alles andere abzieht auch die ökonomischen oder geistig-psychischen Voraussetzungen und Gegebenheiten. Unter den neuen Tafelbildrealisten, die meist so viel Politisches, Ideologisches, Zeitkritisches, Metaphysisches in ihre Bilder packen, ist er derjenige, der sich ganz auf den Menschen selbst konzentriert, sowie auf die Gegenstände und Sachen, die ihm wichtig sind oder scheinen. Kraemers Ideologie, falls man von einer solchen sprechen kann, ist die einer konsequenten Opposition gegen alles, was vom Menschen ablenkt ihn zu überlagern, ihn zu verschlingen droht.