Volker Neuhaus zu Dieter Kraemers Stilleben

Im Film Das große Fressen blickt Michel Piccoli in einer Szene von einer erhöhten Warte aus auf eine ebenso festlich wie üppig gedeckte Tafel hinab und ruft dabei in der deutschen Synchronisation: >Tote Natur! Tote Natur< - Filme pflegen in der Regel noch schlechter und liebloser übersetzt zu werden als gedruckte Texte. Was das Drehbuch an dieser Stelle meint, ist klar - das was auch Alfred Biolek - in seinem Grußwort sagt: Ein gedeckter Tisch, ein gelungenes Gericht, und seien es zwei Eier in der Pfanne, eine wohlgeformte Speise, sei es eine Erdbeere, ein Hummer oder ein Baguette, sind zunächst einmal ein Augenschmaus, d. h. eine nature morte, eben ein Stilleben. Eigentümlicherweise betont der deutsche Begriff gerade das Leben, wo die italienische oder die französische Entsprechung den Akzent auf das Tote legen. Der deutsche Ausdruck erscheint mir treffender zu sein; denn in der Tat leben solche Bilder ja durchaus - einstill, wie man die Einzelphotos aus einem Film bezeichnenderweise nennt, würde dieses Leben für immer bewahren. Der Film als Zeitkunstwerk hingegen zeigt, wie das Bild des Lebens umschlägt in eins des Todes: die abgegessene Tafel, die abgenagten Gräten und Gerippe, den zerstörten Schmuck. Was gegessen wurde, wandelt sich in Kot, was übrig blieb, wird rasch ungenießbar, verfällt, wird zu Gift, zu - jetzt im deutschen Wortsinn - toter Natur, deren früheres Leben allein noch im still oder im Stilleben überdauert.

 

Die Dominanz des Stillebens im aktuellen Werk von Dieter Kraemer ergibt sich konsequent aus der Entwicklung seines gesamten künstlerischen Werkes seit den sechziger Jahren. Die Camper, die Menschen auf Balkonen, auf Motorrädern, in Volkswagen, mit Tennisschlägern, die parkenden Volkswagen, die Frauen vor Telefonzellen hatten immer schon etwas Starres, Lebloses an sich; stets standen sie für sich selbst und versuchten nicht, eine Geschichte zu erzählen. Als Kraemer studierte, stand das deutsche Informel in Hochblüte; sein Berliner Lehrer, der kürzlich verstorbene Hann Trier, war der jüngste Vertreter der Meistergeneration. Bei der Suche nach Vorbildern für seinen in dieser Zeit völlig inopportunen Realismus stieß Dieter Kraemer auf die Maler der Neuen Sachlichkeit, jene unglückliche, kurze, mehr als ein Menschenalter vergessene Epoche Ende der zwanziger und der dreißiger Jahre, die 1933 von den Nazis als Asphaltkunst verboten oder - schlimmer noch - in einer Reihe ihrer gemäßigteren Vertreter absorbiert wurde. Wieland Schmied, einer der Wiederentdecker dieser Richtung, hat einmal gesagt, Menschen und Dinge auf neusachlichen Bildern wirkten, als seien sie unter einer Glasglocke präsentiert - eine Folge der künstlerischen Intention ihrer Urheber, die Dinge sie selbst sein zu lassen auf den Augenreiz des Impressionismus und die Gestik des Expressionismus einen die Dinge respektierenden Realismus folgen zu lassen, eben eine neue Sachlichkeit.

 

Aus diesem Grund belebten neusachliche Maler die mittelalterliche Technik der Tafelmalerei im Wortsinn, d.h. die Malerei auf Holz, die erst aufgegeben wurde, als Bilder für den sich entwickelnden Kunstmarkt transportabel und deshalb leichter werden mußten. Dieter Kraemer griff diese technische Anregung gerne auf, denn der Malgrund Holz erlaubt eine weitestgehende Rücknahme jeglicher peinture, also all der Elemente wie Pinselstriche, Textur, Farbkörper, der Gestik wie der action, um deren Ausgestaltung zu einem ästhetischen Code sich das Informel bemühte, und läßt die Dinge in möglichst unauffälliger Maltechnik sie selber sein. Arno Holz hat einmal in seiner naturalistischen Ästhetik Kunst als das Bestreben gekennzeichnet, wieder zur Natur zu werden, und sie werde es auch nach Maßgabe der zur Verfügung stehenden künstlerischen Mittel - Kumt gleich Natur minus X, wobei X gegen Null streben sollte. Kraemer bevorzugt ganz in diesem Sinne einen Holzgrund, weil der die Hinweise aus das Gemalte, eben die peinture, minimiert. Seit den langen Italien-Aufenthalten aufgrund der renommierten Villa Massimo und Villa Romana-Preise 1979 und 1980 waren es dann, teils im bewußten Anschluß an die Kunstgeschichte, die typischen Sujets des Stillebens, in denen Kraemer die Dinge zu sich selbst kommen ließ.

 

Dabei handelt es sich ja nicht, wie heutigen konsequenten Realisten wie Kraemer oft vorgeworfen wird, einfach um eine Reduplizierung der Wirklichkeit. Daß es höchster Kunst bedarf, um einen dreidimensionalen Gegenstand in seiner malerischen Repräsentation auf einer Fläche natürlich erscheinen zu lassen, ist fast ein Gemeinplatz - schon Aristoteles definiert ästhetisches Vergnügen grundlegend als Vergnügen an solcher Mimesis, wobei darin schon als Grundbedeutung >mimeisthai<, etwas mit (Schauspiel)-Kunst nachahmen, mit enthalten ist. Was im realistischen Gemälde sich vollzieht, ist am ehesten mit Hegels Wortspiel vom >Aufheben< z u beschreiben: Zunächst einmal hebt Kraemer einen Alltagsgegenstand sozusagen von der Straße auf, sei es eine leere Flasche, eine kaputte Glühbirne oder auch der alltägliche Broccolistrunk im Supermarkt. Sodann hebt er ihn auf eine höhere Stufe, indem er ihn ins Bild transponiert, ihn damit in seiner Alltäglichkeit und Realität vernichtet und dabei zugleich in ein ästhetisches Gebilde verwandelt. Und drittens hebt er ihn in diesem Prozeß auf im konservierenden Sinne, verleiht dem Hinfälligen, dem Vergänglichen, dem Verderblichen, dem Faulenden und Verwesenden die kleine Ewigkeit der Kunst.

 

Die Große Nischenwand, an der Kraemer bis in den Spätsommer 1999 gemalt hat, vereinigt all diese Elemente auf das Vollkommenste: In fünfzehn Nischen einer Steinwand, wie sie vielleicht zur Aufnahme von Urnen oder Reliquien dienen mag, liegen typische Gegenstände Kraemerscher Stilleben: Gläser, Flaschen, Brote, eine Zwiebel, ein Pilz, ein angebissener Apfel, ja, eine ausgebrannte Glühbirne, die moderne Verwandte des Emblems von der erloschenen Kerze. Sie alle hat der Künstler in sein Bild gehoben und in ihm aufgehoben, so als versinnbildliche seine Kunst: die ebenso schöne wie ketzerische Lehre des Kirchenvaters Origenes von der apokatastasis panton, der Wiederbringung aller Dinge am Ende der Tage.